Diese Case Study ist zuerst in unserem beabee-Newsletter erschienen. In dem geben wir ein mal im Monat handfeste Tipps und Anleitungen, wie Community-Journalismus funktioniert. Du kannst den Newsletter hier abonnieren: Zur Anmeldung

Crowdrecherchen sind ein journalistisches Werkzeug, um die Schwarmintelligenz der Community zu nutzen. Herauszufinden, wer die größten Player auf dem Wohnungsmarkt meiner Heimatstadt sind, ist in Deutschland nicht so einfach. Warum also nicht im großen Maßstab die Fragen, die es wissen könnten? Die Mieterinnen und Mieter.

In unserer beabee-Lunchbreak im September hatten wir Marc Engelhardt zu Gast. Marc war viele Jahre lang als Reporter auf der ganzen Welt unterwegs. Seit einiger Zeit leitet er bei CORRECTIV den CrowdNewsroom, eine Plattform für Crowdrecherchen.

Anhand einer aktuellen Crowdrecherche aus der Schweiz hat er uns erklärt, welche Phasen jede Crowdrecherche durchläuft. Das Framework, das Marc mit dem CrowdNewsroom entwickelt hat, lässt sich immer wieder auf Recherchen mit der Community anwenden.

Der CrowdNewsroom und der Beobachter: 

  • Der CrowdNewsroom ist ein von CORRECTIV entwickeltes Tool für Crowdrecherchen, mit dem Redaktionen komplexe Umfragen erstellen und die Ergebnisse für Recherchen nutzen können.
  • Der Beobachter ist ein Schweizer Magazin, erscheint alle zwei Wochen und beschäftigt sich vor allem mit Konsumenten- und Beratungs-Themen.

Das sind Crowdrecherchen: 

  • Die Community an Recherchen zu beteiligen und Inhalte gemeinsam mit den Menschen zu entwickeln, ist eine Kernaufgabe im Community-Journalismus.
  • Dabei gibt es verschiedene Abstufungen der Einbindung. Von offenen Fragen wie „Welche Themen liegen euch auf dem Herzen?” bis hin zu komplexen Crowdrecherchen zu einem ganz bestimmten Thema.
  • Crowdrecherchen sind im Prinzip ein strukturiertes Interview, das mit einer großen Anzahl an Menschen geführt wird. Mit den Antworten lassen sich das dann einzelne Geschichten erzählen, im besten Fall aber größere Zusammenhänge erkennen.
  • Der CrowdNewsroom definiert Crowdrecherchen auf seiner Website wie folgt: „Normalerweise recherchieren Journalistinnen und Journalisten alleine und publizieren dann das Resultat. Recherchen mit dem CrowdNewsroom sind anders. Betroffene – Mieterinnen, Fussballspieler, Radfahrerinnen und viele mehr – teilen ihr Wissen, wichtige Daten und Inputs und schaffen damit die Basis für die journalistische Auswertung. Damit werden die Themen beleuchtet, die der Community wirklich auf den Nägeln brennen.”

Das Framework für Crowdrecherchen:

  1. Startphase: In der Startphase geht es vor allem darum, das zentrale Erkenntnisinteresse festzulegen und möglichst auf eine konkrete Recherchefrage herunterzubrechen, mit der viele Menschen etwas anfangen können. Im Fall der Schulwegsrecherche war das „Achtung Schulweg – Wo lauert die Gefahr?”.  In der Startphase ist es außerdem sinnvoll, Partner ins Boot zu holen, die  bei der Recherche helfen können. Hier war es eine große Stiftung für Kinder- und Jugendförderung, ein digitales Elternmagazin und die Stiftung Mercator als Geldgeber für die Recherche.
  2. Konzeptphase: Die zweite Phase ist klassische journalistische Arbeit, nämlich das Strukturieren eines Interviews: Wie muss die Umfrage aussehen, um die Recherchefrage hinreichend zu beantworten? Dabei sollten alle Projektpartner zusammenarbeiten und einen Flow-Chart erstellen. Am besten geht das an einer großen Pinnwand, damit alle auch bei komplexen Umfragen den Überblick behalten. Wie so ein Flow-Chart bei einer CrowdNewsroom-Recherche aussieht, kannst du unten auf dem Bild sehen. Sehr wichtig ist auch zu überlegen, welche  Belege die Teilnehmenden liefern müssen, um ihre Antworten zu verifizieren. Dabei gilt: So niedrigschwellig wie möglich, so aufwändig wie nötig. Bei der Schulwegsrecherche mussten Teilnehmende zum Beispiel Fotos von den gefährlichen Stellen einreichen.
  3. Bauphase: Gibt es ein gutes Konzept, ist das die einfachste Phase, denn es geht schlicht darum, den Flow-Chart in eine Umfrage zu übersetzen.
  4. Kampagnenphase: Mit der Kampagne sollen möglichst viele Menschen zur Teilnahme bewegt werden. Gerade im Lokalen kann man dabei kreativ sein und mit Formaten spielen, zum Beispiel Veranstaltungen organisieren oder sich Guerilla-Marketing-Aktionen überlegen. Bei der Schulwegsrecherche ging es darum, möglichst viele Eltern von Schulkindern in der ganzen Schweiz zu erreichen. Die Kampagne setzte deshalb vor allem darauf, in Eltern-WhatsApp-Gruppen stattzufinden. Dafür erstellte das Team eine Standardnachricht und ein Sharepic, das häufig geteilt wurde. Dabei spielten dann auch die Projektpartner mit Kontakten zu Elternorganisationen eine wichtige Rolle.
  5. Analysephase: Bis zum Ende der Umfrage sind bei der Schulwegsrecherche rund 600 Antworten reingekommen. Die Analyse der Antworten beginnt aber nicht erst nach Ende der Umfrage, sondern schon an Tag eins. Denn auch während die Umfrage noch läuft kann es sich lohnen, einzelne Geschichten bereits zu veröffentlichen, auch um die Kampagne anzuheizen und erste Ergebnisse an die Community zurückzuspielen. Bei der tiefergehenden Analyse im Anschluss ist dann viel Reporterpower gefragt: Gibt es größere Zusammenhänge zwischen den einzelnen Antworten? Tauchen bestimmte Patterns immer wieder auf? Das bietet dann in der Regel viele Ansatzpunkte für weitergehende Recherchen.

Was wir gelernt haben: 

  • Passende Partner finden: Bei Crowdrecherchen ist die Community Trumpf. Die Einbindung von Partnern ist elementar, damit die Kampagne erfolgreich wird. Die wichtigste Frage ist: Wie erreichen wir möglichst viele Menschen, denen die Recherche wichtig ist? Ergänzend dazu kommt der nächste Punkt:
  • Low-hanging Fruits pflücken: Zum Kampagnenstart der Schulwegsrecherche hat das Team auch alle Mitarbeitenden des Beobachter-Verlags angeschrieben mit der Bitte, die WhatsApp-Vorlage an eigene Elterngruppen weiterzuleiten.
  • What’s in it for me? Du solltest Teilnehmenden immer die Möglichkeit bieten, selbst aktiv zu werden. Bei der Schulwegsrecherche haben Teilnehmende im Anschluss an die Umfrage zum Beispiel einen Musterbrief bekommen, mit dem sie die Gefahrenstelle auch der zuständingen staatlichen Stelle melden konnten.
  • Versprechen einlösen: Bei einer Crowdrecherche gehst Du einen imaginären Vertrag mit den Teilnehmenden ein. Sie schenken dir ihre Zeit und ihr Vertrauen. Dafür bekommen sie von dir die Ergebnisse der Recherche, an der sie mitgewirkt haben. Deshalb solltest Du dir schon ab Phase 1 sicher sein, dass Du am Ende auch liefern kannst.
  • Eine Crowdrecherche erzeugt auch Aufmerksamkeit für dich: Eine erfolgreiche Kampagne für eine Crowdrecherche ist auch immer Werbung für das eigene Medium, Teilnehmende sind immer auch potenzielle Mitglieder. Die Menschen sehen, dass hier eine andere Form von Journalismus gemacht wird. Dabei spielt es dann auch nicht unbedingt eine Rolle, wie bahnbrechend die Ergebnisse der Recherche sind. Der Prozess an sich erzeugt schon wichtige Aufmerksamkeit.

Du hast eigene Erfahrungen oder Use cases, die wir aufnehmen sollen? Dann schreib einfach eine E-Mail an tobias.hauswurz@beabee.io.